Donnerstag, 23. April 2015

Erzählstimmen - oder: Wie erwecke ich meine Figuren zum Leben?

Für etliche Autoren ist es fast schon Alltag, von den unterschiedlichsten Figuren belagert zu werden. Und jeder Autor schreibt immer wieder über andere Persönlichkeiten. Die Figuren unterscheiden sich dabei in allem, worin sich lebendige Menschen auch unterscheiden. Manche hatten eine schöne Kindheit, andere nicht. Manche sind noch Kinder, andere Figuren sind alt. Manche Figuren sind weiblich, andere männlich, andere Wesen, die es in unserer Welt gar nicht gibt. Manche leben in der Zukunft, manche in der Vergangenheit und manche in Welten, die ihr Autor erschaffen hat.
Und doch stehen uns bei jeder einzelnen Figur nur die gleichen 26 Buchstaben zur Verfügung, um über sie zu schreiben.
Einem Fotographen nimmt die Natur viel Arbeit ab, indem er schon einmal abbilden kann, was da ist. Der Autor muss das alles über die gleichen 26 Buchstaben aufbauen.
Aber gerade diese 26 Buchstaben bieten uns ungefähr 26 Millionen Möglichkeiten. Und zwar indem wir unseren Figuren eine eigene Stimme geben. Nein, ich meine damit nicht, dass man als Autor versuchen sollte, ständig die Stimme einer Figur zu beschreiben. Sondern dass man versuchen soll, jede Figur auf ihre eigene Weise erzählen zu lassen.


Ein kleines, völlig banales Beispiel, das nun mit jedem Satz eine andere Figur darstellen wird, obwohl die Aussage jedes Mal die Gleiche ist. Die Figur wird euch nämlich jetzt begrüßen und sich vorstellen, also etwas, das grundsätzlich jede Figur hin und wieder tun wird.

  1.  "Seid gegrüßt! Man ruft mich Signy."
  2. "Hi. Signy."
  3. "Hallo, ich bin Signy."
  4. "Signy."
  5. "Guten Tag, mein Name ist Signy." 
Fünf Sätze, fünf Signys. Wir wissen nichts über Signy, aber anhand dieser Sätze kann man sich schon so einiges vorstellen.
Bei Satz 1 können wir davon ausgehen, dass Signy entweder aus der Vergangenheit stammt, oder in einer erfundenen mittelalterlichen Welt lebt.  Außerdem kann man der sehr gewählten Ausdrucksweise entnehmen, dass Signy vermutlich gebildet und dementsprechend wohl auch höhergestellt ist. Außerdem scheint sie ein höflicher Mensch zu sein.
Satz 2 ist definitiv in einem moderneren Setting angesiedelt. Theoretisch könnte es auch der wilde Westen sein, rein von der Herkunft des "Hi"s her gesehen. Diese Signy ist scheinbar nicht allzu gesprächig. Ganz offensichtlich spricht sie auch in keinem formalen Rahmen und ihrem Gegenüber ist wohl klar, dass sie sich gerade vorstellt.
Satz 3 könnte so ziemlich überall, abgesehen von Zeiten und Settings, in denen sicher kein Mensch "Hallo" gesagt hat, spielen. Signy scheint ein recht offener, freundlicher Mensch zu sein. Immerhin gönnt sie ihrem Gegenüber einen kompletten Satz. So könnte sie sich auch in einem recht offiziellen Rahmen vorstellen, einen Kurs leiten wollen oder Ähnliches.
Satz 4 zeigt eine sehr wortkarge Figur. Das kann unterschiedliche Gründe haben, aber ganz offensichtlich will diese Signy nicht mehr über sich preisgeben als ihren Namen.
Satz 5 spielt mit Sicherheit in einem offiziellen Rahmen und von der Zeit her später als das Mittelalter bzw. vergleichbare Settings. Signy ist ganz offensichtlich ein höflicher Mensch. Vielleicht auch ein klein wenig distanziert, je nach der Situation in der dieser Satz ausgesprochen wird.

So, nun hat unsere Figur nicht mehr getan, als zu grüßen und sich vorzustellen und ganz offensichtlich haben wir jedes Mal eine andere Signy im Kopf.
Und genau so geht es weiter. Unsere Figuren sprechen ja nicht nur, sie denken auch. Und wenn wir uns vorstellen, dass sie uns ihre Geschichten erzählen, dann erzählen sie auch unterschiedlich. Wenn Signy ein Kind ist, wird sie anders erzählen, als als Erwachsene. Wenn sie eine Gelehrte aus einem Mittelaltersetting ist, spricht sie anders, als die gnadenlose Killerin in der Zukunft. Wenn sie eine Liebe zur Poesie hat, spricht sie wieder anders, als wenn sie eher der wortkarge, direkte Typ ist.

In der Erzählstimme lebt die jeweilige Figur, denn sie ist alles, was wir von der enstprechenden Figur zu Gesicht bekommen. Und mit dieser Stimme steht und fällt die Geschichte. Die beste Idee und die tollsten Twists im Plot werden auf wenig Gegenliebe treffen, wenn die handelnde Figur nicht greifbar wird.
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, eine entsprechende Figur zu beleben. Man kann versuchen, die Figur Tagebuch führen zu lassen. Das muss nicht unbedingt innerhalb der Geschichte geschehen, kann dem Autor aber helfen, die entsprechende Erzählstimme zu finden. Man kann versuchen, von der ersten in die dritte Person zu wechseln, oder anders herum. Man kann versuchen, ein bisschen mit der Sprache zu experimentieren. Und man kann versuchen, den Hintergrund der Figur zu ergründen. Und man kann ein bisschen aus dem eigenen gewohnten Sprachmuster herauskommen. Vielleicht hilft es bei der einen oder anderen Figur, eine derbere, direktere Sprache zu wählen, als man sie selbst spricht. Vielleicht hilft es bei einer anderen Figur, deutlich formeller zu sein, als man gemeinhin selbst ist.

Das sind natürlich alles keine heiligen Weisheiten, sondern lediglich Erklärungen, wie ich selbst es handhabe und was mir bisher geholfen hat, um die eine oder andere Figur zu fassen zu bekommen.

Wie immer beim Schreiben gilt auch hier: Probieren geht über Studieren. Probiert es aus und wenn ihr Lust habt, dann hinterlasst mir doch einen Kommentar, was für euch funktioniert, oder eben nicht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen